Milen Till
Anbahnung
Kunstverein Heppenheim
22. Dezember 2023 bis 22. Januar 2024
In seinen vielschichtigen Arbeiten setzt sich Milen Till häufig mit ikonographischen Werken berühmter Künstler*innen auseinander. Er greift ihre wesentlichen Merkmale auf, verfremdet sie, kontextualisiert sie, stellt verblüffende Zusammenhänge her und gibt ihnen eine neue Bedeutung. Dabei führt er den Betrachter manchmal bewußt in die Irre, manchmal genau zum Kern der verfremdeten Kunstikonen. Was ihm aber stets gelingt: Er ironisiert und würdigt die Werke seiner Vorbilder gleichermaßen. Er lenkt unseren Blick auf die Bedeutungsschwere der bildenden Kunst und verleiht ihr gleichzeitig eine sympathische, überraschende, augenzwinkernde Leichtigkeit.
Für die Ausstellung „Anbahnung“ im Kunstverein Heppenheim widmet sich Milen Till mit Hilfe von Holzeisenbahn-Spielzeugschienen dem Werk des wohl berühmtesten Künstlers des letzten Jahrhunderts: Pablo Picasso. Hierfür trug Till ein Konvolut aus hunderten, gebrauchten Holzeisenbahnschienen unter anderem der Marken Brio und Eichhorn zusammen, gesammelt aus eigenem Familienbesitz, von Freunden und Bekannten, Flohmärkten sowie Ebay Kleinanzeigen.
Er transformiert die Schienen in den realen Raum, schuf damit Picassos weltberühmte Tierskizzen und bringt sie an den Wänden an. Auf diese Weise entstehen Spieleisenbahnstrecken und Wandgebilde, auf denen der Blick des Betrachters die Motive und den Strich des legendären Künstlers gewissermaßen „nachfährt“. Neben der weit verbreiteten Friedenstaube lässt sich noch ein Kamel und ein Flamingo entdecken.
Darüber hinaus greift Till in die Architektur des Kunstvereins ein, indem er den beigen Kachelboden des Raumes mit hunderten vereinzelten Schienen bedeckt. Dabei schafft er einen chaotischen „Schienen-Teppich“, auf dem die Besucher*innen entweder eine persönliche Entgleisung erfahren oder sich mit etwas Gleichgewichtsgeschick und Vorstellungskraft auf eine ganz eigene Reise begeben: die Erinnerung an die Kindheit – das vielleicht größte Thema im Werk Picassos, dessen 50. Todesjahr mit der Ausstellung „Anbahnung“ zu Ende geht.
Neben den Werken, die sich aus Fundstücken erschließen, präsentiert Milen Till eine aus Buchenholz neu angefertigte, lebensgroße Skulptur in Form einer aufrecht stehenden
Holzeisenbahnschiene, die der Künstler auf seine eigene Körpergröße (184cm) hat bauen lassen. Dass die Form der vergrößerten Schiene den/die Betrachter*in unweigerlich an eine vor ihnen stehende Figur denken lässt, schafft einen neuen Blickwinkel für das beliebte Spielzeug.
Zur Ausstellungseröffnung wird der Künstler Gregor Hildebrandt, Tills Mentor und ehemaliger Professor, die Eröffnungsrede halten. Der begleitende Ausstellungstext ist eine Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Milen Till und Leeor Engländer, dem Managing Director des Studio Baselitz.
Milen Till wurde 1984 in München geboren, wo er bis heute lebt. Er studierte an der Münchner Kunstakademie bei Gregor Hildebrandt und graduierte 2020 mit dem Meisterdiplom. Bereits während seines Studiums nahm er an zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen teil, unter anderem in Paris, Wien, New York, Dublin, München, Leipzig und Berlin.
"Mir geht es allein um die Kunst"
Milen Till im Gespräch mit Leeor Engländer
Im Jahr 2016 wurdest du von Kunstprofessor Gregor Hildebrandt entdeckt, weil du ein Skateboard auf zwei sich drehende Schallplattenspieler gestellt hattest. Das Skateboard rollt auf der Stelle oder fährt in die Unendlichkeit, je nachdem, wie man es sehen will. Das war dein Durchbruch in der Bildenden Kunst noch bevor du überhaupt an der Kunstakademie angefangen hattest. Hildebrandt nahm dich in seine Klasse auf. Wie fühlt es sich an, wenn man den größten Hit seiner Karriere schon hinter sich hat, noch bevor es richtig losging?
Ich finde das eigentlich ganz gut, denn ein Hit ist ja schon mal ein Hit. Dann weiß man, dass es klappen kann, und dass man es auch ein weiteres Mal schaffen kann. Deshalb macht man weiter.
Im Kunstverein Heppenheim zeigst du jetzt Strichzeichnungen von Picasso, nachgebaut aus BRIO-Eisenbahnschienen aus Holz. Ein Kinderspielzeug, das wir alle von Früher kennen, als riesige Wandobjekte. Die Strichzeichnung ist in der Gattung der Zeichenkunst die höchste Disziplin, denn jeder Strich muss sitzen, es gibt keine Korrektur. Nur die ganz großen Meister beherrschen das Metier - Picasso, Matisse, Ellsworth Kelly oder Andy Warhol. Jetzt machst du aus feinen Strichen Eisenbahnschienen - weil du nicht zeichnen kannst?
Weil ich nicht so gut wie Picasso zeichnen kann, aber wer kann das schon. Es geht allerdings um etwas ganz anderes. Diese Wandobjekte sehen, wie die Zeichnungen, sehr einfach aus. Sie sind aber hoch komplex. Ich habe die einzelnen Schienenteile alle digital aus dem Netz. Dann nehme ich die Zeichnung und lege am Computer die Schienen drauf. Es ist wahnsinnig kompliziert, das zusammenzubekommen, bis es klappt. Du musst alle möglichen Teile und möglichen Kombinationen im Kopf haben. Es ist ein Wunder, dass das funktioniert. Es ist wie ein Lottogewinn. Es klappt nur mit den Zeichnungen von Picasso. Vielleicht weil die universell sind.
Was ist genialer, die Zeichnungen oder die Schienen?
Natürlich die Zeichnungen. Künstler zeichnen sich doch durch große Bescheidenheit aus. Es wäre interessant, was Picasso auf diese Frage geantwortet hätte.
Du arbeitest öfter mit Gegenständen, die uns allen bekannt sind, zu denen wir einen persönlichen Bezug haben – Longdrinkgläser, Kaffeehausstühle, Kugelschreiber, Kunstpostkarten. Oft sind diese Objekte selbst schon Designklassiker. Wie kommt es dazu?
Diese Designgegenstände, von denen du sprichst, sind für mich einfach Material, mit dem ich arbeite. Es sind Dinge die mich umgeben, die Teil meines Alltags sind oder waren, die mich faszinieren. Ich gehe nicht in den Wald und sammle Stöcke und Blätter und mache dann Skulpturen aus Müll. Das interessiert mich nicht.
Warum die Schienen?
Die Motivation war, zu erkennen, dass mit diesem Material noch nie jemand vorher etwas gemacht hatte, dass es noch unbenutzt war und brach liegt. Und dann wollte ich das für meine Zweck ausschlachten. Das Objekthafte ist mein Zugang zur Kunst. Ich habe es ja nicht geschafft von der Zeichnung in die Malerei zu gehen. Da gab es für mich keine Verbindung. Damals als ich Kunst zum ersten Mal verstanden habe, war es Objektkunst. Deshalb ist das Objekt bisher mein Medium.
Warum Picasso und keine freie Abstraktion?
Es würde nach nichts aussehen. Es hätte keine Bedeutung. Es würde sich anfühlen wie ein Hobby. Ich habe mit den Schienen alles probiert: Skulpturen, Reliefs, … deshalb habe ich jetzt so viele Teile im Atelier. Ich hätte damit Blumen formen oder das afrikanische Schienennetz nachbauen können, um auf die Folgen des Kolonialismus aufmerksam zu machen. Aber das ist alles Mist. Erst mit den Zeichnungen von Picasso macht es für mich Sinn. Ich bin Künstler, ich beschäftige mich mit der Kunstgeschichte. Neben den Objekten, mit denen ich arbeite, ist die Kunst mein Material.
Die Meisten deiner Arbeiten basieren auf Werken deiner Vorgänger. Wenn du sagst, das ist dein Material, existiert die Kunst von Milen Till dann überhaupt ohne die anderen Künstler?
Gegenfrage: Existiert irgendeine Kunst von heute ohne die Vorbilder von früher? Alles, was wir vorfinden, hilft einem dabei, weiterzukommen und Sprünge zu machen. Mein Weg ist derzeit, die Vorbilder direkt anzupacken, mich ihnen gnadenlos auszusetzen und gnädig mit ihnen umzugehen. Kann sein, dass ich irgendwann etwas ganz anderes mache. Das Ziel ist vielleicht, sich komplett davon zu befreien, aber wenn sie kommen, dann nehme ich sie mit Selbstbewusstsein an. Die Referenzen zur Kunstgeschichte entstehen zwangsläufig und sind für mich stärker.
Es wird erst gut, wenn du dich auf die Kunst besinnst?
Für mich ja! Erst dann macht es Sinn. Es ist ja nicht nur die Taube, es ist ja auch noch die Form. Ich will Objekte bauen, die etwas hervorrufen, oder eine Berechtigung bekommen im Auge der Betrachter, weil sie es schon kennen, weil es für sie aussieht wie Kunst. Dann bekommt es eine Aura, die ich nicht hinbekommen würde, wenn ich es ohne diesen Gedanken machen würde. Dann wäre es nur Kitsch. Es braucht Referenzen, es muss auf die Kunstgeschichte aufbauen. Alles andere ist Politik, oder Aktivismus. Ich bin ja Künstler und beschäftige mich mit der Kunst und neben der kunsthistorischen Referenz kommt noch das Persönliche und Biografische.
Was ist dein persönlicher Aspekt an den Arbeiten in Heppenheim? Hattest du die Eisenbahn auch als Kind?
Ja, aber nie so viele Teile. Ich hatte nur wenige. Alle Kinder hatte nur wenige Teile. Und jetzt habe ich ganz viele. Und ich freue mich, dass ich die jetzt in Massen habe. Vielleicht eine Art späte Kompensation. Und vielleicht will jemand, der nie so eine Eisenbahn hatte, aber sich immer eine gewünscht hat, oder ein Taube von Picasso, jetzt meine Taube.
Eisenbahnschienen können aber noch ganz andere erschreckende Assoziationen hervorrufen: Krieg, Verfolgung, Deportation, Holocaust…
Ja, und auch das habe ich in meiner Kindheit sehr früh nahegelegt bekommen, oder habe diese Geschichten gehört und Filme gesehen. Und auch das ist Teil der Jugend und Kindheit, der Assoziationen, die man dann sein Leben lang hat, trauriger Weise.
Und du hast keine Hemmungen, daraus einen Flamingo, eine Taube und ein Kamel zu machen?
Doch habe ich. Aber dann habe ich bemerkt, dass es so wenige Leute gibt, die diese Hemmungen verstehen und dann wurde es interessant für mich. Und deswegen wollte ich da weiter machen, weil ich glaube, dass da was ist, was ich nicht erklären kann. Diese Gedanken sind bei mir alle gleichzeitig gegenwärtig. Auch das ist Bestandteil der Kunst, dass sie Assoziationen erzeugt, von denen wir nicht erwartet hätten, dass sie zusammengehören, dass sie Gefühle verstärkt oder Probleme löst.
Picassos Friedenstaube an der Wand als riesiges Graffiti aus Bahnschienen, also keine Friedensbotschaft zu aktuellen Lage?
Das kann jeder sehen, wie er will. Mir geht es allein um die Kunst und die Assoziationen, die wir damit haben. Wenn eine Friedensbotschaft dazu gehört, okay. Aber es kann genauso der Gedanke an das Spielzeug sein, das wir aus unserer Kindheit kennen, die Erinnerungen, die uns alle begleiten oder verfolgen, das ist der Lockstoff, das Bindemittel und dann auf einmal Piccasso, der sich ständig mit dem Kindsein beschäftigt hat. Wir kennen seine Zitate dazu: „Ich konnte schon früh zeichnen wie Raffael, aber ich habe ein Leben lang dazu gebraucht, wieder zeichnen zu lernen wie ein Kind.“ Oder: „Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben“. Und Picasso hat die Taube ja auch nicht als Friedenstaube gezeichnet. Sie wurde irgendwann dazu gemacht. Mich stört es eher, dass es eine Friedenstaube ist. Es ist einfach ein geniales Kunstwerk.
Wann ist für dich ein Kunstwerk genial?
Es muss intelligent sein! Es muss Spaß machen, es muss Emotionen auslösen, die Leute zum Denken anregen, sie überraschen.
Für manche gilt, gute Kunst muss all das vorangegangene in der Kunstgeschichte dominieren, demontieren oder die Kunstgeschichte fortschreiben, sie auf eine neue Stufe bringen. Es heißt: „Um König zu werden, musst du den König töten“. Ist Picasso deine Messlatte?
Er war bislang einfach der intelligenteste. Denke an den Fahrradsattel als Stier. Er hat jede Disziplin totgeschlagen mit seiner Genialität. Durch ihn und andere wie Duchamp hat mein objekthaftes Arbeiten seine Legitimität. Misch da noch Karl Valentin darunter, dann kommen wir der Sache näher. Aber die haben es alle noch nicht bis zum Ende getrieben. Da ist noch Luft. Beziehungsweise da ist wieder Raum nach oben entstanden, denn zu deren Zeit waren Dinge noch nicht möglich, die heute möglich sind.
Zum Beispiel?
Naja. Picasso-Zeichnungen aus Brio-Schienen waren vor 80 Jahren noch nicht möglich, weil es sie da noch nicht gab. Computer gibt es auch noch nicht allzu lang. Von KI ganz zu schweigen.
Mitten im Kunstverein steht senkrecht ein einzelnes Schienenteil. Es hat genau deine Körpergröße. Als Figur erinnert es ein bisschen an Henry Moore mit den kleinen runden Köpfen. Ein Standbild? Ein Selbstportrait? Der erwachsene Milen Till im Kinderzimmer mit Picasso?
Irgendwann habe ich erkannt, als ich mit diesen vielen Schienenteilen im Atelier saß, dass diese Scheinen auch eine Silhouette haben, kein Ready Made, aber eine Skulptur wie ein Mensch, wie Giacometti. Die Reduktion des menschlichen Körpers. Auch, dass man nicht weiß, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Eine perfekte Holzskulptur, was man aber viel besser sieht, wenn man sie in Körpergröße nachbaut. In klein ist es nur die Schiene, aber in groß wird es dann zu dem, was ich sehe. Und jedes Teil kann so groß sein wie einer von uns.
Findest du alle Teile gleichschön?
Die Kurven sind schön. Die kleinen Kurven sind besonders schön, weil sie sich so anlehnen. Ich habe auch eine Skulptur im Kopf, wie sich eine kleine Person an eine große anlehnt. Das ist dann auf einmal sehr harmonisch, romantisch, poetisch, obwohl es sich ja nur um Bahnschienen handelt. Aus dieser Assoziation ist das Einladungskartenmotiv entstanden.
Auf dem Boden im Kunstverein liegen noch ganz viele lose Schienenteile. Dein Professor Gregor Hildebrandt ist bekannt dafür, sich mit Fußböden zu beschäftigen. Müssen Schüler von Hildebrandt immer auch etwas auf dem Boden machen?
Wer weiß. Er bringt seine Schüler jedenfalls immer auf den Boden der Tatsachen, damit man von dort richtig abheben kann. Vielleicht ist das auch die Idee hinter dem Schienen-Chaos auf dem Kunstverein-Boden: Dass alles möglich ist. Dass vielleicht doch noch mehr geht als Picasso. Man kann darauf laufen, die Teile sind lose, sie funktionieren nicht mehr als Schienen, sondern als Grundlage, Material. So liegen sie ja auch im Kinderzimmer rum wenn Chaos herrscht. Im Chaos findet alles gleichzeitig statt. Denk an Picasso: „Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener ein Künstler zu bleiben“…
Geht das alles also noch weiter, weitere Zeichnungen und unendlich viele Personen?
Nein, die Zeichnungen sind wohl fertig. Aber die Portraits können unendlich viele werden, von Menschen, die wichtig sind, oder, die einfach ein Portrait von sich haben möchten, wie die Warhol-Portraits, als Auftrag, jede Skulptur so groß wie der Auftraggeber.
Du könntest also dein Leben lang nur Bahnschienen in unterschiedlichen Körpergrößen machen und so dein Geld verdienen, wie Warhol mit den Portraits?
Das wäre schön, aber ich befürchte, die Leute wollen immer etwas Neues sehen.
Das Gespräch entstand im Vorfeld der Ausstellung „Anbahnung“, welche vom 22. Dezember 2023 bis 22. Januar 2024 im Kunstverein Heppenheim zu sehen ist. Leeor Engländer ist Managing Director im Studio von Georg Baselitz.
Photos © Jens Gerber
Milen Till
Anbahnung
Kunstverein Heppenheim
22. Dezember 2023 bis 22. Januar 2024
In seinen vielschichtigen Arbeiten setzt sich Milen Till häufig mit ikonographischen Werken berühmter Künstler*innen auseinander. Er greift ihre wesentlichen Merkmale auf, verfremdet sie, kontextualisiert sie, stellt verblüffende Zusammenhänge her und gibt ihnen eine neue Bedeutung. Dabei führt er den Betrachter manchmal bewußt in die Irre, manchmal genau zum Kern der verfremdeten Kunstikonen. Was ihm aber stets gelingt: Er ironisiert und würdigt die Werke seiner Vorbilder gleichermaßen. Er lenkt unseren Blick auf die Bedeutungsschwere der bildenden Kunst und verleiht ihr gleichzeitig eine sympathische, überraschende, augenzwinkernde Leichtigkeit.
Für die Ausstellung „Anbahnung“ im Kunstverein Heppenheim widmet sich Milen Till mit Hilfe von Holzeisenbahn-Spielzeugschienen dem Werk des wohl berühmtesten Künstlers des letzten Jahrhunderts: Pablo Picasso. Hierfür trug Till ein Konvolut aus hunderten, gebrauchten Holzeisenbahnschienen unter anderem der Marken Brio und Eichhorn zusammen, gesammelt aus eigenem Familienbesitz, von Freunden und Bekannten, Flohmärkten sowie Ebay Kleinanzeigen.
Er transformiert die Schienen in den realen Raum, schuf damit Picassos weltberühmte Tierskizzen und bringt sie an den Wänden an. Auf diese Weise entstehen Spieleisenbahnstrecken und Wandgebilde, auf denen der Blick des Betrachters die Motive und den Strich des legendären Künstlers gewissermaßen „nachfährt“. Neben der weit verbreiteten Friedenstaube lässt sich noch ein Kamel und ein Flamingo entdecken.
Darüber hinaus greift Till in die Architektur des Kunstvereins ein, indem er den beigen Kachelboden des Raumes mit hunderten vereinzelten Schienen bedeckt. Dabei schafft er einen chaotischen „Schienen-Teppich“, auf dem die Besucher*innen entweder eine persönliche Entgleisung erfahren oder sich mit etwas Gleichgewichtsgeschick und Vorstellungskraft auf eine ganz eigene Reise begeben: die Erinnerung an die Kindheit – das vielleicht größte Thema im Werk Picassos, dessen 50. Todesjahr mit der Ausstellung „Anbahnung“ zu Ende geht.
Neben den Werken, die sich aus Fundstücken erschließen, präsentiert Milen Till eine aus Buchenholz neu angefertigte, lebensgroße Skulptur in Form einer aufrecht stehenden
Holzeisenbahnschiene, die der Künstler auf seine eigene Körpergröße (184cm) hat bauen lassen. Dass die Form der vergrößerten Schiene den/die Betrachter*in unweigerlich an eine vor ihnen stehende Figur denken lässt, schafft einen neuen Blickwinkel für das beliebte Spielzeug.
Zur Ausstellungseröffnung wird der Künstler Gregor Hildebrandt, Tills Mentor und ehemaliger Professor, die Eröffnungsrede halten. Der begleitende Ausstellungstext ist eine Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Milen Till und Leeor Engländer, dem Managing Director des Studio Baselitz.
Milen Till wurde 1984 in München geboren, wo er bis heute lebt. Er studierte an der Münchner Kunstakademie bei Gregor Hildebrandt und graduierte 2020 mit dem Meisterdiplom. Bereits während seines Studiums nahm er an zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen teil, unter anderem in Paris, Wien, New York, Dublin, München, Leipzig und Berlin.
"Mir geht es allein um die Kunst"
Milen Till im Gespräch mit Leeor Engländer
Im Jahr 2016 wurdest du von Kunstprofessor Gregor Hildebrandt entdeckt, weil du ein Skateboard auf zwei sich drehende Schallplattenspieler gestellt hattest. Das Skateboard rollt auf der Stelle oder fährt in die Unendlichkeit, je nachdem, wie man es sehen will. Das war dein Durchbruch in der Bildenden Kunst noch bevor du überhaupt an der Kunstakademie angefangen hattest. Hildebrandt nahm dich in seine Klasse auf. Wie fühlt es sich an, wenn man den größten Hit seiner Karriere schon hinter sich hat, noch bevor es richtig losging?
Ich finde das eigentlich ganz gut, denn ein Hit ist ja schon mal ein Hit. Dann weiß man, dass es klappen kann, und dass man es auch ein weiteres Mal schaffen kann. Deshalb macht man weiter.
Im Kunstverein Heppenheim zeigst du jetzt Strichzeichnungen von Picasso, nachgebaut aus BRIO-Eisenbahnschienen aus Holz. Ein Kinderspielzeug, das wir alle von Früher kennen, als riesige Wandobjekte. Die Strichzeichnung ist in der Gattung der Zeichenkunst die höchste Disziplin, denn jeder Strich muss sitzen, es gibt keine Korrektur. Nur die ganz großen Meister beherrschen das Metier - Picasso, Matisse, Ellsworth Kelly oder Andy Warhol. Jetzt machst du aus feinen Strichen Eisenbahnschienen - weil du nicht zeichnen kannst?
Weil ich nicht so gut wie Picasso zeichnen kann, aber wer kann das schon. Es geht allerdings um etwas ganz anderes. Diese Wandobjekte sehen, wie die Zeichnungen, sehr einfach aus. Sie sind aber hoch komplex. Ich habe die einzelnen Schienenteile alle digital aus dem Netz. Dann nehme ich die Zeichnung und lege am Computer die Schienen drauf. Es ist wahnsinnig kompliziert, das zusammenzubekommen, bis es klappt. Du musst alle möglichen Teile und möglichen Kombinationen im Kopf haben. Es ist ein Wunder, dass das funktioniert. Es ist wie ein Lottogewinn. Es klappt nur mit den Zeichnungen von Picasso. Vielleicht weil die universell sind.
Was ist genialer, die Zeichnungen oder die Schienen?
Natürlich die Zeichnungen. Künstler zeichnen sich doch durch große Bescheidenheit aus. Es wäre interessant, was Picasso auf diese Frage geantwortet hätte.
Du arbeitest öfter mit Gegenständen, die uns allen bekannt sind, zu denen wir einen persönlichen Bezug haben – Longdrinkgläser, Kaffeehausstühle, Kugelschreiber, Kunstpostkarten. Oft sind diese Objekte selbst schon Designklassiker. Wie kommt es dazu?
Diese Designgegenstände, von denen du sprichst, sind für mich einfach Material, mit dem ich arbeite. Es sind Dinge die mich umgeben, die Teil meines Alltags sind oder waren, die mich faszinieren. Ich gehe nicht in den Wald und sammle Stöcke und Blätter und mache dann Skulpturen aus Müll. Das interessiert mich nicht. Warum die Schienen? Die Motivation war, zu erkennen, dass mit diesem Material noch nie jemand vorher etwas gemacht hatte, dass es noch unbenutzt war und brach liegt. Und dann wollte ich das für meine Zweck ausschlachten. Das Objekthafte ist mein Zugang zur Kunst. Ich habe es ja nicht geschafft von der Zeichnung in die Malerei zu gehen. Da gab es für mich keine Verbindung. Damals als ich Kunst zum ersten Mal verstanden habe, war es Objektkunst. Deshalb ist das Objekt bisher mein Medium.
Warum Picasso und keine freie Abstraktion?
Es würde nach nichts aussehen. Es hätte keine Bedeutung. Es würde sich anfühlen wie ein Hobby. Ich habe mit den Schienen alles probiert: Skulpturen, Reliefs, … deshalb habe ich jetzt so viele Teile im Atelier. Ich hätte damit Blumen formen oder das afrikanische Schienennetz nachbauen können, um auf die Folgen des Kolonialismus aufmerksam zu machen. Aber das ist alles Mist. Erst mit den Zeichnungen von Picasso macht es für mich Sinn. Ich bin Künstler, ich beschäftige mich mit der Kunstgeschichte. Neben den Objekten, mit denen ich arbeite, ist die Kunst mein Material.
Die Meisten deiner Arbeiten basieren auf Werken deiner Vorgänger. Wenn du sagst, das ist dein Material, existiert die Kunst von Milen Till dann überhaupt ohne die anderen Künstler?
Gegenfrage: Existiert irgendeine Kunst von heute ohne die Vorbilder von früher? Alles, was wir vorfinden, hilft einem dabei, weiterzukommen und Sprünge zu machen. Mein Weg ist derzeit, die Vorbilder direkt anzupacken, mich ihnen gnadenlos auszusetzen und gnädig mit ihnen umzugehen. Kann sein, dass ich irgendwann etwas ganz anderes mache. Das Ziel ist vielleicht, sich komplett davon zu befreien, aber wenn sie kommen, dann nehme ich sie mit Selbstbewusstsein an. Die Referenzen zur Kunstgeschichte entstehen zwangsläufig und sind für mich stärker.
Es wird erst gut, wenn du dich auf die Kunst besinnst?
Für mich ja! Erst dann macht es Sinn. Es ist ja nicht nur die Taube, es ist ja auch noch die Form. Ich will Objekte bauen, die etwas hervorrufen, oder eine Berechtigung bekommen im Auge der Betrachter, weil sie es schon kennen, weil es für sie aussieht wie Kunst. Dann bekommt es eine Aura, die ich nicht hinbekommen würde, wenn ich es ohne diesen Gedanken machen würde. Dann wäre es nur Kitsch. Es braucht Referenzen, es muss auf die Kunstgeschichte aufbauen. Alles andere ist Politik, oder Aktivismus. Ich bin ja Künstler und beschäftige mich mit der Kunst und neben der kunsthistorischen Referenz kommt noch das Persönliche und Biografische.
Was ist dein persönlicher Aspekt an den Arbeiten in Heppenheim? Hattest du die Eisenbahn auch als Kind?
Ja, aber nie so viele Teile. Ich hatte nur wenige. Alle Kinder hatte nur wenige Teile. Und jetzt habe ich ganz viele. Und ich freue mich, dass ich die jetzt in Massen habe. Vielleicht eine Art späte Kompensation. Und vielleicht will jemand, der nie so eine Eisenbahn hatte, aber sich immer eine gewünscht hat, oder ein Taube von Picasso, jetzt meine Taube.
Eisenbahnschienen können aber noch ganz andere erschreckende Assoziationen hervorrufen: Krieg, Verfolgung, Deportation, Holocaust…
Ja, und auch das habe ich in meiner Kindheit sehr früh nahegelegt bekommen, oder habe diese Geschichten gehört und Filme gesehen. Und auch das ist Teil der Jugend und Kindheit, der Assoziationen, die man dann sein Leben lang hat, trauriger Weise.
Und du hast keine Hemmungen, daraus einen Flamingo, eine Taube und ein Kamel zu machen?
Doch habe ich. Aber dann habe ich bemerkt, dass es so wenige Leute gibt, die diese Hemmungen verstehen und dann wurde es interessant für mich. Und deswegen wollte ich da weiter machen, weil ich glaube, dass da was ist, was ich nicht erklären kann. Diese Gedanken sind bei mir alle gleichzeitig gegenwärtig. Auch das ist Bestandteil der Kunst, dass sie Assoziationen erzeugt, von denen wir nicht erwartet hätten, dass sie zusammengehören, dass sie Gefühle verstärkt oder Probleme löst.
Picassos Friedenstaube an der Wand als riesiges Graffiti aus Bahnschienen, also keine Friedensbotschaft zu aktuellen Lage?
Das kann jeder sehen, wie er will. Mir geht es allein um die Kunst und die Assoziationen, die wir damit haben. Wenn eine Friedensbotschaft dazu gehört, okay. Aber es kann genauso der Gedanke an das Spielzeug sein, das wir aus unserer Kindheit kennen, die Erinnerungen, die uns alle begleiten oder verfolgen, das ist der Lockstoff, das Bindemittel und dann auf einmal Piccasso, der sich ständig mit dem Kindsein beschäftigt hat. Wir kennen seine Zitate dazu: „Ich konnte schon früh zeichnen wie Raffael, aber ich habe ein Leben lang dazu gebraucht, wieder zeichnen zu lernen wie ein Kind.“ Oder: „Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben“. Und Picasso hat die Taube ja auch nicht als Friedenstaube gezeichnet. Sie wurde irgendwann dazu gemacht. Mich stört es eher, dass es eine Friedenstaube ist. Es ist einfach ein geniales Kunstwerk.
Wann ist für dich ein Kunstwerk genial?
Es muss intelligent sein! Es muss Spaß machen, es muss Emotionen auslösen, die Leute zum Denken anregen, sie überraschen.
Für manche gilt, gute Kunst muss all das vorangegangene in der Kunstgeschichte dominieren, demontieren oder die Kunstgeschichte fortschreiben, sie auf eine neue Stufe bringen. Es heißt: „Um König zu werden, musst du den König töten“. Ist Picasso deine Messlatte?
Er war bislang einfach der intelligenteste. Denke an den Fahrradsattel als Stier. Er hat jede Disziplin totgeschlagen mit seiner Genialität. Durch ihn und andere wie Duchamp hat mein objekthaftes Arbeiten seine Legitimität. Misch da noch Karl Valentin darunter, dann kommen wir der Sache näher. Aber die haben es alle noch nicht bis zum Ende getrieben. Da ist noch Luft. Beziehungsweise da ist wieder Raum nach oben entstanden, denn zu deren Zeit waren Dinge noch nicht möglich, die heute möglich sind.
Zum Beispiel?
Naja. Picasso-Zeichnungen aus Brio-Schienen waren vor 80 Jahren noch nicht möglich, weil es sie da noch nicht gab. Computer gibt es auch noch nicht allzu lang. Von KI ganz zu schweigen.
Mitten im Kunstverein steht senkrecht ein einzelnes Schienenteil. Es hat genau deine Körpergröße. Als Figur erinnert es ein bisschen an Henry Moore mit den kleinen runden Köpfen. Ein Standbild? Ein Selbstportrait? Der erwachsene Milen Till im Kinderzimmer mit Picasso?
Irgendwann habe ich erkannt, als ich mit diesen vielen Schienenteilen im Atelier saß, dass diese Scheinen auch eine Silhouette haben, kein Ready Made, aber eine Skulptur wie ein Mensch, wie Giacometti. Die Reduktion des menschlichen Körpers. Auch, dass man nicht weiß, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Eine perfekte Holzskulptur, was man aber viel besser sieht, wenn man sie in Körpergröße nachbaut. In klein ist es nur die Schiene, aber in groß wird es dann zu dem, was ich sehe. Und jedes Teil kann so groß sein wie einer von uns.
Findest du alle Teile gleichschön?
Die Kurven sind schön. Die kleinen Kurven sind besonders schön, weil sie sich so anlehnen. Ich habe auch eine Skulptur im Kopf, wie sich eine kleine Person an eine große anlehnt. Das ist dann auf einmal sehr harmonisch, romantisch, poetisch, obwohl es sich ja nur um Bahnschienen handelt. Aus dieser Assoziation ist das Einladungskartenmotiv entstanden.
Auf dem Boden im Kunstverein liegen noch ganz viele lose Schienenteile. Dein Professor Gregor Hildebrandt ist bekannt dafür, sich mit Fußböden zu beschäftigen. Müssen Schüler von Hildebrandt immer auch etwas auf dem Boden machen?
Wer weiß. Er bringt seine Schüler jedenfalls immer auf den Boden der Tatsachen, damit man von dort richtig abheben kann. Vielleicht ist das auch die Idee hinter dem Schienen-Chaos auf dem Kunstverein-Boden: Dass alles möglich ist. Dass vielleicht doch noch mehr geht als Picasso. Man kann darauf laufen, die Teile sind lose, sie funktionieren nicht mehr als Schienen, sondern als Grundlage, Material. So liegen sie ja auch im Kinderzimmer rum wenn Chaos herrscht. Im Chaos findet alles gleichzeitig statt. Denk an Picasso: „Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener ein Künstler zu bleiben“…
Geht das alles also noch weiter, weitere Zeichnungen und unendlich viele Personen?
Nein, die Zeichnungen sind wohl fertig. Aber die Portraits können unendlich viele werden, von Menschen, die wichtig sind, oder, die einfach ein Portrait von sich haben möchten, wie die Warhol-Portraits, als Auftrag, jede Skulptur so groß wie der Auftraggeber.
Du könntest also dein Leben lang nur Bahnschienen in unterschiedlichen Körpergrößen machen und so dein Geld verdienen, wie Warhol mit den Portraits? Das wäre schön, aber ich befürchte, die Leute wollen immer etwas Neues sehen.
Das Gespräch entstand im Vorfeld der Ausstellung „Anbahnung“, welche vom 22. Dezember 2023 bis 22. Januar 2024 im Kunstverein Heppenheim zu sehen ist. Leeor Engländer ist Managing Director im Studio von Georg Baselitz.
Photos © Jens Gerber